Wir quartieren uns in Chamonix ein und sind auf Skitour im Vallée Blanche, am Grands Montets und in Les Contamines. Die Krönung ist eine dreitägige Tour auf der Haute Route.
Erfahrene Skibergsteiger, die sich Mitte März nach Chamonix begeben, haben für gewöhnlich einen ganz bestimmten Plan im Rucksack. Sie wollen – hier sei diese abgegriffene Metapher angebracht – die Mutter aller Skidurchquerungen angehen. Die siebentägige Haute Route von Chamonix nach Zermatt ist seit gut einhundert Jahren das höchste der Gefühle für den Skitourengeher. Wer hat’s erfunden? Nein, nicht wie das berühmte Hustenbonbon die Schweizer, sondern die Engländer, die im 19. Jahrhundert den Alpinismus sprichwörtlich salonfähig machten. Zunächst zu Fuß und später mit einem neumodischen Gerät namens Ski, suchten sie den kürzesten Weg durch die Gletscherwelt zwischen Chamonix und dem geliebten Matterhorn bei Zermatt, denn der Weg durch die Täler war in Zeiten vor dem Automobil zwar weit weniger gefährlich, aber ebenso recht beschwerlich und alles andere als eine direkte Linie zwischen den zwei Orten.
Basislager Chamonix, Ortsmitte
Am Genfer Flughafen gabele ich meine zwei Freunde auf. Ilyas, unser Mann aus Beirut und Toby, der Schweizer, der schon ewig in London lebt. Die Fahrt ins Chamonix-Tal dauert kaum eine Stunde, für mich allerdings bereits die siebte Stunde hinter dem Steuer, nach einer epischen Autofahrt entlang der halben Alpenkette vom Bayerischen ins Hochsavoyische.
Unser Plan für die Woche: Wir quartieren uns in ein Appartement im Ortszentrum von Chamonix ein, hören uns täglich die Vorschläge unseres Bergführers Yves Salino an und unternehmen je nach Lawinen- und Wetterlage Ein- oder Mehrtagestouren im Montblanc-Massiv oder den Walliser Alpen. Gegenüber einer fix geplanten einwöchigen Skitour auf der Haute Route, hat unser Quartier im Ort den Vorteil, dass wir flexibel sind. Ist das Wetter in Chamonix schlecht, kann es auf der Südseite des Montblanc in Courmayeur oder in Megève ganz anders aussehen, irgendeine Skitour ist immer möglich. Und dann wäre da ja noch dieser angenehme Alpenort. „Cham“, so der Kosename von Chamonix erinnert nicht umsonst an das Wort charmant.
Chamonix gibt sich sportlich und unprätentiös. Während man in anderen traditionsreichen Wintersportorten wie Zermatt, St. Moritz oder Kitzbühel am frühen Abend im Pelzkragen-Mäntelchen durch den Ort promeniert, stiefelt in Chamonix das junge, internationale Publikum mit Klettergurt, Rucksack und Skiern auf der Schulter lässig durch die Fußgängerzone. Das Angebot an Sportfachgeschäften ist überwältigend, von Markenshops über Sportfachgeschäfte bis hin zum Sportdiscounter Decathlon ist alles vorhanden. Unser Favorit ist das große Fachgeschäft 'Snell Sports' mit riesiger Auswahl und erstklassiger Beratung. Toby lässt sich dort einen neuen Tourenstiefel angießen. Er fragt sich am nächsten Tourentag, warum er sich so lange Jahre mit dem alten herumgequält hat.
Ein abwechslungsreiches Programm. Unsere Skitouren:
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Tag 1: Eingehtour ab Les Contamines: 400Hm - 13km - 3,5Std.
Erster Tag, wir gehen es gemütlich an, nehmen die Lifte im Skigebiet Les Contamines-Montjoie zu Hilfe, starten unsere Tour beim Aguille de Roselette, umrunden den Tete de la Cicle und haben bei nicht einfachem Schnee ab dem Col de la Cicle eine lange Abfahrt zurück durchs Val Montjoie.
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Tag 2: Ganz nah am Mont Blanc, das Vallée Blanche: 560Hm - 21km - 4,5Std.
Spektakuläre Gletscherabfahrt, ab Gipfelstation Aguille-du-Midi. Wir verlängern den Genuss und steigen hinauf Richtung Point Heilbronner zur italienischen Grenze. Insgesamt rund 2.500Hm Powder-Abfahrtsvergnügen über den Géant Gletscher und Mer du Glace bis Montenvers. -
Tage 3-5: Filetstück der Haute Route: Arolla – Dix-Hütte – Vignettes-Hütte – Zermatt: 2800Hm - 47km - 17Std.
Großartig! Zwei Übernachtungen auf Hütten, langer und anstrengender 3. Tag auf der Königsetappe nach Zermatt vorbei am Fuß des Matterhorns. Inklusive unfreiwillige Heliflüge. Trotzdem, bei perfektem Wetter, unser absolutes Highlight. -
Tag 6: Abfahrtsvergnügen Grand Montets/Argentiere
Von der Gipfelstation des Grand Montets gibt es eine Vielzahl von Abfahrtsvarianten hinab zum Argentière Gletscher. Die Bergbahn auf den Grand Montets eröffnet aufgrund eines Feuers im Herbst 2018 voraussichtlich erst wieder in 2021/22. Deshalb war an der Bergstation des Sessellifts La Herse Endstation. Von dort ca. 500Hm Aufstieg zum Col de Rachasses. Spektakuläre Fahrt durch den Eisbruch am Rognons Gletscher hinab zum Argentière Gletscher und dann genüsslich zurück zum Skigebiet.
Chief Risk Officer – unser Bergführer
Unser Bergführer Yves Salino kennt nicht nur das Montblanc-Massiv und die Haute Route wie seine Westentasche, sondern war in seinem langjährigen Berufsleben als Bergführer in aller Herren Länder unterwegs. So hat er sechs der 'Seven Summits' erklommen, lediglich der Mount Vinson auf der Antarktis fehlt noch in seiner Sammlung.
Daheim ist der Franzose mit Kunden runde 70 Mal auf den Gipfel des Matterhorns geklettert. Stets zu Scherzen aufgelegt, führt er streng und konzentriert wenn's am Berg drauf ankommt. Yves spricht ein sehr gutes Englisch. Er bietet auch komplett arrangierte Reisen an, z.B. in den Kaukasus und dort auf den Elbrus.
Email: yves.salino@gmail.com
Tel.: +33 450585691
Zwei Standardwerke für Skitouren am Mont Blanc und Umgebung: Hartmut Eberlein beschreibt im Rother Mont Blanc Skitourenführer nicht nur die Anstiege auf den Mont Blanc, sondern 51 weitere mittelschwere bis schwere Touren im Montblanc-Massiv und das Gebiet rund um den weißen König.
Die 1:50000 Mont Blanc Skitourenkarten vom schweizerischen Bundesamt für Landestopografie (swisstopo) sind konkurrenzlos genau. Wer die Gebiete um Argentière und Val Ferret ebenfalls abdecken will, benötigt neben dem Blatt 492S (Mont Blanc) auch das Blatt 282S (Martigny).
Höhenakklimatisation im Vallée Blanche
Yves hat uns fest am Seil. Wir sind aus dem Eistunnel am Aguille du Midi getreten und stapfen, Ski am Rucksack, einen Grat hinunter, der zwar mit Seilen gesichert ist, aber je nach Beschaffenheit der Unterlage – Schnee, blankes Eis oder von beidem etwas – zur kitzligen Angelegenheit werden kann. Denn sollte man hier durch die Seile flutschen, dann gäbe es kein Halten mehr, es ginge gleich kilometerweise den Abgrund Richtung Chamonix hinunter. Yves hatte uns zuvor von einer Frau erzählt, die hier abstürzte und nach gut tausend Meter Sturz auf einem Felsvorsprung zum Halt kam. Sie wurde bewusstlos aufgefunden, sonst fehlte ihr nicht viel. Beruhigende Geschichte.
Jetzt im Winter, wenn Schneefälle dem Grat eine breitere Basis geben und ein zweiter Pfad seitlich in die Flanke gesetzt wird, ist der Abstieg vergleichsweise gut zu meistern. „Als wir hier mal im Sommer hinaufgingen, war dieser verdammte Schneegrat gerade einmal zwei Schuhe breit“ berichtet Ilyas und montiert vorsichtshalber seine Steigeisen, bevor wir hinabsteigen. Vor uns geht ein mutiger Mann ohne Tourenausrüstung, die Ski vor der Brust umklammert, hat er alle Mühe mit den glatten Sohlen der Pistenskischuhe einen sicheren Stand zu finden.
Mit dem Abstieg über den Grat am 3.842m hohen Aguille du Midi ist die wohl anspruchsvollste Passage der Vallée Blanche Gletscherabfahrt auch schon hinter uns. Unter den bequem per Bergbahn erreichbaren, wird die Abfahrt mit maximal 2700m Höhenunterschied und rund 20 Kilometer Strecke als längste und schönste Gletscherabfahrt der Alpen gehandelt.
Das Wetter ist prächtig und wir wären nicht Skitourengeher, würden wir das Vallée Blanche als reine Freeridetour befahren. Auf den Géant Gletscher abgefahren, ziehen wir unsere Felle auf am Fuße des Montblanc du Tacul, dessen Trabanten über uns wie eine riesige gotische Kathedrale aufragen. Wir steigen knapp 500Hm gemächlich auf bis hin zur italienischen Grenze nahe dem Pointe Helbronner. Nun beginnt der Spaß, rund 1.800Hm Abfahrt über den Géant Gletscher und das Mer de Glace. Wir nehmen uns viel Zeit, stoppen, schauen, staunen über die Gletscherwelt, entschließen uns gegen eine Einkehr im Refuge du Requin, hangeln uns über die gut eingefahrene, steilere Passage am Géant Eisbruch entlang und erreichen schließlich über das flach dahinfließende Mer du Glace die Eisgrotte bei Montenvers. Wenn es die Schneeverhältnisse zulassen, kann von dort bis nach Chamonix abgefahren werden. Wir aber nehmen die Eisentreppen und die kleine Gondelbahn bis hinauf zur Bahnstation Montenvers, von dort rollen wir mit dem Zug hinab nach Chamonix.
Wettervorhersage bestens. Auf zur Haute Route! Drei Tage: Arolla – Dix-Hütte – Vignettes-Hütte – Zermatt. Inklusive Rettungsflug.
Toby und Ilyas haben mit der Haute Route noch eine Rechnung offen. Vor drei Jahren mussten sie ihre Skitour wegen Schneesturms bei der Cabane de Bertol abbrechen, die glorreiche Schlussetappe vorbei an der Nordwand des Matterhorns nach Zermatt blieb ihnen verwehrt. Zuvor schon mussten sie den 3790m hohen Pigne d’Arolla links liegen lassen, den höchsten Gipfel, der direkt auf der Haute Route liegt. Jetzt war stabiles Wetter vorhersagt und die beiden brannten darauf, diesen anstrengenden, doch lohnendsten Teilabschnitt der „klassischen“ Haute Route nachzuholen. Aber auch dieses Mal sollten die Dinge nicht nach Plan verlaufen.
Der Reihe nach. Unsere drei Tage auf der Haute Route beginnen zwei Autostunden von Chamonix entfernt im schweizerischen Arolla. Das Bergdorf in den Walliser Alpen ist bekannt als Etappenort des legendären Skitourenrennens 'Patrouille des Glaciers'. Bei diesem spektakulären Gebirgswettlauf über 53km und 4000 Höhenmeter überwinden die besten Skitourensprinter die Gletscherwelt zwischen Zermatt und Verbier in etwas unter sechs Stunden. Kaum vorstellbar für uns, denn wir sind überzeugt, dass unsere Route über drei Tage mit insgesamt 47km und 2800 Höhenmeter auch nicht von Pappe ist.
Über den „Ziegenschritt“ zur Dix-Hütte
Der Aufstieg zur Dix-Hütte ist nicht allzu anstrengend, zumal wir die ersten paar hundert Höhenmeter im Skigebiet von Arolla einen Tellerlift zu Hilfe nehmen. Einzig der Abstieg über die Stahlleitern am 'Ziegenschritt' (Pas du Chèvre) und der anschließende Steilhang erfordern, man könnte sagen, 'ziegenhafte' Trittsicherheit.
Es ist Mitte März, die Cabane des Dix hat erst vor wenigen Tagen geöffnet, sie wird nun während der Hochsaison für Skitouren bis Anfang Mai bewirtschaftet. Die Hütte liegt sanft auf einer Anhöhe über dem Cheilongletscher auf knapp 3000m. An die Hauswand gelehnt, genießt eine Tourengruppe aus Island die Nachmittagssonne, so entspannt, als ob sie gerade ein Sessellift heraufgebracht hätte. Sie beobachten ihre Kameraden, die noch nicht genug hatten und einen zweistündigen Abstecher auf den La Luette Gipfel unternehmen. Wir lassen es gut sein, nutzen die letzten Sonnenstrahlen, um unser Equipment zu trocknen, bevor wir uns dem hervorragenden Biersortiment hingeben.
War die Haute Route früher eine Angelegenheit für gesetztere Herren, ist heute das Publikum überwiegend jung, international und durchaus auch weiblich. Die ebenso jungen Wirtsleute haben den Hüttenbetrieb gut im Griff, bestimmt im Ton und dennoch freundlich, ganz im Gegensatz zum dünnhäutigen Burgherrn und seiner korsischen Matrone, die wir am nächsten Abend in der Vignettes Hütte ertragen müssen.
Die Nachtruhe endet um fünf Uhr morgens. Wer mehr als ein paar Stunden tief geschlafen hat, ist beneidenswert. Das enge Bettenlager, der Mix aus Körperdünsten und -geräuschen und nicht zuletzt die Höhenlage sind einem gesunden Schlaf nicht eben förderlich. Nach einem spartanischen Frühstück treten wir um sechs Uhr hinaus in die eisige Kälte und starten die kurze Abfahrt auf den Cheilongletscher. Von dort sollte unser vierstündiger Aufstieg zum 3790m hohen Pigne d’Arolla beginnen. Soweit unser Plan. Es kam aber anders.
"The German with the broken binding"
Ich hatte einen, eigentlich gleich zwei Fehler gemacht. Erstens, ich hatte meine Tourenski am Vortag auf der Hütte nicht richtig in die Sonne gestellt, die Schneereste am Ski wurden über Nacht zu Eis, die Bindungen war deshalb teilweise eingefroren. Für die kurze Abfahrt war das noch kein Problem. Dann aber kam mein zweiter Fehler: Beim Versuch, die vereiste Bindung in den Aufstiegsmodus umzustellen, hatte ich brachiale Gewalt angewandt mit der fatalen Folge, dass eine Lasche aus Karbonmaterial zerbrach und die Bindung des Skis nicht mehr im Abfahrtsmodus zu gebrauchen war. Quel malheur!
Ilyas versucht es mit einer traditionellen Enteisungstechnik, er pinkelt über die Bindung, leider zu spät, das Ding ist futsch. Yves flucht sogleich über die elende 'Marker' Bindung, alles außer 'Dynafit' und dem lokalen französischen Hersteller 'Plum' wäre schließlich Schrott. Wenig später sollte er Lügen gestraft werden. Wir begegnen einer Tourengeherin, die eine defekte Dynafit Bindung zu beklagen hat. Zur Ehrenrettung der Marker Kingpin sei gesagt, dass das keine schlechten Tourenbindungen sind und insbesondere für Schwergewichte wie mich gut geeignet sind, man muss nur vernünftig damit umgehen.
Was nun? Wir borgen bei einem mit Werkzeug gut ausgestatteten Bergführer einen dicken Draht, vielleicht können wir die Bindung damit fixieren? Eine andere Möglichkeit, die Abfahrt im Telemarkstil zu bewältigen wird ob meiner völligen Unerfahrenheit mit dieser Fahrtechnik sofort verworfen. Wie man beim Telemarken das Kurvenfahren lernt? Man fährt, versucht eine Kurve zu machen, fällt hin, steht auf, fährt weiter, versucht eine weitere Kurve zu machen, fällt hin, steht auf – und so weiter und so fort. Das ginge vielleicht auf einer Piste, nicht aber bei schwierigem Schnee auf der Haute Route. Schließlich entscheidet Yves, zurück zur Dix-Hütte aufzusteigen und von dort einen Rettungsflug zu organisieren.
In der Dix-Hütte bekommen wir nicht nur einen Hubschrauber für meinen Flug runter nach Arolla gebucht, sondern auch einen zweiten Flug wieder hinauf zum Pigne d’Arolla. Ich fliege also ins Tal und leihe mir beim gut sortierten Bournissen Sportgeschäft in Arolla ein Paar funktionierende Tourenski. Yves, Ilyas und Toby kommen per Ski ins Tal, wir essen gemeinsam im Hotel Glacier ein gepflegtes Rösti Glacier, fliegen sodann ganz bequem per Helikopter auf den Pigne d’Arolla und setzen von dort unsere Haute Route fort. Zum Glück sind wir in der Schweiz. Denn wäre meine Panne im französischen Teil der Haute Route passiert, wäre zwar mein Rettungsflug kostenlos gewesen, der Flug vom Tal hinauf auf den Berg wäre aber nicht möglich gewesen, denn Heli-Skiing ist in Frankreich verboten. So kostete der fünfminütige Rettungsflug gute 600 Franken. Als DAV-Mitglied wird mir das über die Versicherung aber später voll erstattet. Bergnot ist Bergnot, ob man nun verletzt ist oder das Material versagt.
Als unser Helikopter auf dem Plateau kurz unter dem Gipfel des Pigne d’Arolla landet, sind die Isländer gerade im Anmarsch, sie haben den mühsamen Aufstieg fast hinter sich. Aus dem Hubschrauber springend, winken wir ein wenig verlegen, die Isländer sind cool und winken freudig zurück. Notfälle machen auf der Haute Route schnell die Runde, abends in der Vignettes-Hütte war ich bereits bekannt als „the German with the broken binding“.
Die Katastrophe am Pigne d’Arolla vom 29. April 2018
Wir hatten uns für einen Abstecher zur Haute Route entschieden, vor allem weil stabiles, schönes Wetter vorhergesagt war. Was passieren kann, wenn das Wetter schlecht ist und man vorhergesagte Wetterumschwünge unterschätzt, hat das katastrophale Bergunglück vom 29. April 2018 am Pigne d’Arolla gezeigt. An jenem Sonntag im April gehen 14 Skibergsteiger trotz der angekündigten Schlechtwetterfront von der Dix-Hütte frühmorgens los. Ihr eigentliches Ziel, die 10 Stunden entfernte italienische Nacamuli-Hütte, sollten sie nie erreichen. Im Laufe des Tages schlägt das Wetter dramatisch um, die Gruppe kämpft im aufkommenden Schneesturm gegen 200kmh Windböen an und verliert im Whiteout die Orientierung. Technische Hilfsmittel wie GPS oder Satellitentelefon versagen. Bei Einbruch der Dunkelheit gibt die Gruppe völlig entkräftet auf, an einer Stelle, an der hart gefrorener Schnee das Graben einer schützenden Mulde unmöglich macht. Ein lebensrettender Biwack-Sack fehlt in den Rucksäcken. Man kämpft gegen Erschöpfung und Müdigkeit, versucht sich wach zu halten. Erfrierungen sind seltsam schmerzlos und wenn die Körpertemperatur unter 28 Grad fällt, wird der Erfrierende lethargisch und dämmert dem Tod entgegen. Sieben Skibergsteiger, darunter der Bergführer, überstehen die Nacht nicht, sie erfrieren, kaum 500m entfernt von der Vignettes-Hütte.
Nur die erfahrensten Skibergsteiger werden die Haute Route auf eigene Faust unternehmen. Allen anderen sei dringend empfohlen, einen ortskundigen Bergführer zu engagieren. Trotz Bergführer macht es Sinn, sich vorab mit der Haute Route vertraut zu machen. Im Rother Haute Route Bergführer ist nicht nur die "klassische" Route von Chamonix nach Saas Fee zu finden, sondern er beschreibt auch Alternativen (z.B. Großer St. Bernhard) sowie das Ganze rückwärts (Saas Fee nach Chamonix). Dazu unerlässlich, die swisstopo Karten (für die komplette Haute Route Blätter 282S (Martigny), 283S (Arolla) sowie 284S (Mischabel).
Die Königsetappe der Königstour: Vignettes Hütte bis Zermatt
Wenn man bei dieser durchwegs beeindruckenden Skidurchquerung, die die Haute Route ist, überhaupt von Höhepunkten sprechen kann, dann gehört sicherlich der Abschnitt von der Vignettes-Hütte bis Zermatt dazu. Das Gros der Tourengeher absolviert diesen spektakulären, äußerst langen Teilabschnitt nicht an einem Tag, sondern legt eine Übernachtung in der Cabane de Bertol oder der Schönbielhütte ein. Wir aber nehmen die drei Pässe mit insgesamt 1200Hm Aufstieg sowie die 35km Gesamtdistanz auf einen Rutsch, schließlich sind wir am Vortag vor allem Hubschrauber geflogen und deshalb einigermaßen ausgeruht.
An diesem langen Tag bin ich froh um jedes Gramm, das ich nicht im Rucksack habe. Yves hatte mir angeraten, meinen ABS-Rucksack nicht mit auf die Haute Route zu nehmen. Zu Schwer! In der Tat haben wir während der drei Tage auf der Strecke und in den Hütten keinen einzigen Lawinenrucksack ausmachen können. Gewichtsoptimierung ist auch Teil des Risikomanagements. Was nützt ein ABS-Rucksack, wenn man aufgrund von Entkräftung Fehler macht? Auch Helme habe ich recht selten gesehen. Sicherlich sinnvoll, aber sehr voluminös. Zudem hatte Yves gewitzelt, ein Helm auf Skitour wäre doch memmenhaft.
Nach dem ersten Pass (Col de L’Eveque) und der Abfahrt auf den Arolla-Gletscher schütteln wir das Gros der anderen Tourengruppen ab, die sich mit Ziel Bertol-Hütte oder Arolla bewegen. Von nun an, teilen wir uns die Route nur noch mit einer weiteren Gruppe. Das Wetter ist perfekt, unsere Verfassung gut, kein Grund vom noch vor uns liegenden, riesigen Pensum abzurücken. Das anspruchsvollste Stück dieser Mammuttour ist der zweite Pass, der 3213m hohe Col du Mont Brulé. Hier packen wir für die letzten 100 Höhenmeter die Ski an den Rucksack, montieren die Steigeisen und steigen angeseilt mit Hilfe des Eispickels die steile Passage hinauf. Danach wird’s wirklich heiß. Beim lang gezogenen Aufstieg auf den Col de Valpelline kommen wir uns vor, wie bei einer Wüstendurchquerung, kein Lüftchen, die Sonne brennt, wehe dem, der schon sein ganzes Wasser verbraucht hat.
Der Augenblick, der am meisten überwältigt an diesem Tag, sind die letzten Meter Aufstieg auf den letzten Pass, den Col de Valpelline. Im Aufsteigen taucht ganz allmählich die Spitze des Matterhorns auf, bis der schönste aller Berge schließlich in seiner ganzen Pracht und in weiterer Ferne viele andere Viertausender zu sehen sind. Neben der gewaltigen Aussicht lässt uns auch die nun bevorstehende, wohl eindrucksvollste Abfahrt der Haute Route frohlocken: Rund 20km und 2000Hm Abfahrtsvergnügen, an mächtigen Eisbrüchen und unmittelbar an der Nordseite des Matterhorns vorbei bis ins Zermatter Skigebiet. Ein Genuss! Wohl dem, der noch einige Körner für diese grandiose Abfahrt aufgespart hat. Nach gut neun Stunden laufen wir in Zermatt ein, die Zivilisation hat uns wieder, sie müsste nicht gleich so nobel sein!
Abfahrtsvergnügen vom Aiguille des Grand Montets
Wäre die Bergbahn zum Grands Montets in Argentière in 2018 nicht einem Brand zum Opfer gefallen, wäre unser letzter Tag in Chamonix zum reinen Abfahrtsvergnügen geworden. So müssen wir die letzten 500 Höhenmeter zum Col de Rachasses aufsteigen, bevor wir über den Rognons Gletscher zum Argentière Gletscher abfahren. Die komplett überholte Bergbahn zum Grands Montets wird voraussichtlich in der Wintersaison 2021/22 in Betrieb gehen.
Höhepunkt der Abfahrt vom Grands Montets hinab zum Argentière Gletscher ist ohne Zweifel der Eisbruch am Rognons Gletscher. Bergführer Yves führt uns mitten durch die beindruckenden, Respekt einflößenden haushohen Eisblöcke.
ZAG Ski – Mehr als nur ein Souvenir aus Chamonix
Der Bruch meiner Skibindung auf der Haute Route zwang mich Tourenskier auszuleihen. Was liegt näher, als den heimischen Hersteller ZAG Ski zu testen. Der Skihersteller sitzt mit seinem Ladengeschäft in Argentière und bietet Kaufinteressierten eine kostenlose Leihe für einen Tag.
Das Modell UBAC-95 von ZAG war für mich eine Erleuchtung: Superleicht, schien sich dieser Ski den Schneeverhältnissen förmlich anzupassen. Seine Performance über die harten Pisten des Argentière Skigebiets hatte mich dann vollends überzeugt – ich musste einen haben!
Chamonix Tipps im Überblick
- Unterkunft. La Ginabelle von Pierre & Vacances. Sehr zentral zur Chamonix-Fußgängerzone gelegen mit Pool und Saunabereich. Gutes Preis-Leistungsverhältnis.
- Ausrüstung & Skileihe. Unter den vielen Sportfachgeschäften war Snell Sports für uns das Maß aller Dinge. Große Auswahl, sehr kompetente Beratung und wichtig, nicht teurer als zuhause.
- Freeride-/Tourenski Kauf. (Tagesleihe). Der lokale Skihersteller ZAG in Argentière. Das Modell UBAC-95 ist die Allzweckwaffe.
- Bergführer. Der Franzose Yves Salino ist ein heimischer Bergführer mit langjähriger Erfahrung und der richtigen Einstellung zum Risiko am Berg (spricht sehr gut Englisch) über www.guides-cham.com, Email Kontakt: yves.salino@gmail.com
- Restaurants. Unser go-to Restaurant war der Italiener Casa Valerio. Dort gibt's nicht nur Pizza, sondern auch hervorragende hausgemachte Pasta. Am letzten Abend haben wir uns das Restaurant La Maison Carrier (im Hotel Le Hameau Albert 1er) gegönnt. Gehoben aber nicht gestelzt, eine gemütliche Atmosphäre. Sehr gute Fleischgerichte vom offenen Grill.
- Aktuelle Informationen auf der Chamonix Webseite und der Webseite der Bergbahnen Chamonix. Achtung: Es empfiehlt sich, eine Zeit für die Bergfahrt auf den Aiguille du Midi vorab zu reservieren.
Noch viel mehr über Chamonix ist in unserem Sommerbericht 'Wandern in Chamonix' zu finden.
Text und Fotos Jürgen Mahler
Wenn der Bericht gefallen hat, freue ich mich über einen Eintrag ins Gästebuch.